Die Anforderungen des Arbeitsumfeldes, die an Mitarbeiter:innen gestellt werden, ändern sich schnell und permanent. Das heißt für jeden von uns: Anpassen und gegebenenfalls Neues lernen. Einige Aufgaben fallen durch Automatisierung weg. Im Gegenzug entstehen neue Herausforderungen, um dem Anspruch an schneller und qualitativ hochwertiger Arbeit gerecht zu werden. Das gibt dem Thema Lernen eine ganz neue Bedeutung. Wie muss Lernen in Zukunft aussehen und wie können wir uns Fähigkeiten aneignen, von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass wir sie morgen vielleicht brauchen werden?

Am 29.10.2020 fand zu diesem Thema unser 35. New Work Meetup statt. Über 50 Teilnehmer:innen loggten sich in die Zoom-Konferenz ein, um der Frage “Warum wir das Lernen neu erlernen sollten” auf den Grund zu gehen. Inhaltlichen Input lieferten vor allem die Wissenschaftler Timo Kortsch und Julian Decius sowie die Wirtschaftspsychologin Felicia Würtenberger, die uns als People & Culture Expertin einen Einblick in die Lernmentalität des Startups Kollex gab. Zwischendurch könnten sich die Teilnehmer*innen in Break-Out Sessions wie immer untereinander zu den Themen Lernen und Neues Arbeiten austauschen. Begonnen haben wir mit einer Wordcloud:

Diese Begriffe assoziieren unsere Teilnehmer:innen mit dem Begriff Neues Lernen

 

New Learning in 6 Thesen 

Im Meetup sprechen Timo Kortsch und Julian Decius von ihrem Verständnis von New Learning. Die Erkenntnisse ihrer Forschung haben die beiden in sechs Thesen zusammengefasst. Sie beschäftigen sich schon lange mit der Frage, wie Lernen auf die heutigen Gegebenheiten angepasst werden muss. Dabei betrachten sie auch – und hier wird es für uns interessant – wie sich die Anforderungen von New Work auf unsere Art zu lernen auswirken. 

Diese sechs Thesen können Denkanstöße sein, sowohl für uns Lernende, für die Lehrenden, oder Menschen aus dem Personalwesen, die sich mit Lernen und Weiterbildung beschäftigen. Sie sollen motivieren, das Lernen als täglichen Begleiter zu sehen und Lernen ins Arbeitsleben einzubauen. Werden diese sechs Thesen beachtet, lässt sich New Learning realisieren. Gleichzeitig wird die Chance auf eine erfolgreich lernende Organisation deutlich erhöht.

 

These #1: Die Werkzeuge machen den Unterschied

Bereits in der Vergangenheit gab es Zeiten, in denen wir abwechselnd informell und formal gelernt haben. Im Mittelalter haben Schmiede beispielsweise durch Abschauen, Zeigen, Üben und Feedback informell gelernt, während in der industriellen Revolution ein effizienterer Weg eingeschlagen wurde. Hier entstanden standardisierte Schulungen, welche von Lernenden schlichtweg konsumiert wurden ohne jegliche Art von Austausch. Heute zeigt sich teilweise wieder der Trend zurück zum Informellen. Es gibt in vielen Organisationen regelmäßige Feedback-Runden und es wird gemeinsam an einer Sache gearbeitet, wie zum Beispiel beim Pair Programming in der Softwareentwicklung. Auch in Zukunft können wir erwarten, dass der Fokus von informellen zu formalen Lernen und zurück immer wieder wechseln wird. Was Julian und Timo vor allem meinen, wenn sie von Werkzeugen sprechen, sind Lernmethoden. Zu erwähnen sind hier Working Out Loud und Microlearning. Dies sind unterschiedliche Lernmethoden, die durch einen Austausch gemeinsame Lernmöglichkeiten schaffen.

 

These #2: Lernen liegt stärker in der Verantwortung der Lernenden

Timo Kortsch ist auch Mitgründer der Denkverstärker

Die Arbeitswelt hat sich verändert. Früher war es möglich, in einem Unternehmen eine Lehre abzuschließen, um dort anschließend bis zur Rente zu arbeiten. Heute strecken sich die Lebensläufe vieler Mittdreißiger bereits über mehrere Seiten, um alle Stationen festzuhalten, die für eine zukünftige Stelle relevant sein könnten.

Das liegt auch daran, dass Weiterentwicklung heutzutage nicht nur heißt, die Karriereleiter hochzuklettern. Weiterentwicklung funktioniert auch in der Breite und führt zu vielen neuen Skillsets abseits eines eingefahrenen Entwicklungspfades. Das ist sowohl eine Chance, als auch eine Herausforderung, denn das bestehende (und von Unternehmen an die Mitarbeiter:innen verteilte) Lernangebot deckt nicht unbedingt das Interesse der Lernenden ab. New Work bedeutet auch mehr Selbstbestimmung und Verantwortung am Arbeitsplatz. Die Lernenden möchten auf Augenhöhe gesehen werden und sollten ihren Lernpfad agil gestalten und mitbestimmen. Damit liegt die Verantwortlichkeit des modernen Lernens auch wieder stärker bei Lernenden.

 

These #3: Lernen muss ganzheitlich betrachtet werden

In Bezug auf informelles und formales Lernen gibt es kein besser oder schlechter beziehungsweise richtig oder falsch. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Informelles Lernen ist beispielsweise schnell umsetzbar: Ich habe eine konkrete Problemstellung, informiere mich, hole Rat ein und probiere mich aus. Direkt und sofort. Manchmal ist das was ich lerne nicht das Richtige, oder ich verzettele mich in der Informationsflut beim recherchieren. 

Da hat das formale Lernen Vorteile, denn es kommt mit einem vorgegebenen Rahmen. Der Inhalt ist auf das Lernziel abgestimmt. Ich weiß also konkret, was ich am Ende können sollte. Leider kann man aber nicht auf Vorrat formal lernen, insbesondere wenn ich mir vielleicht noch gar nicht darüber im Klaren bin, was ich schon morgen lernen muss damit ich es übermorgen kann. Ein ständiger Konflikt zwischen Lernen und dem Transfer in die tägliche Arbeit: Es kann vorher schwer kontrolliert werden, ob etwas erfolgreich erlernt wurde, wenn es im Arbeitsalltag noch nicht benötigt worden ist. Wir müssen also die richtige Mischung aus informellem und formalem Lernen finden.

Julian und Timo berichten uns vom agilen Lernen im Gesamtkontext einer Organisation. Hier wird das agile Manifest auf das Lernen adaptiert. Für eine Organisation wird ein Lernziel definiert, der Product Owner sammelt die Anforderungen zur Erreichung des Lernziels, priorisiert diese und kommuniziert sie mit dem Lernteam. Dieses formuliert kleinere Lernziele, die in kurzen Iterationen umsetzbar sind. Zur Seite steht ein Scrum Master, der Konzepte und Methoden zum Lernen kennt, berät, und Hindernisse aus dem Weg räumt. In regelmäßig stattfindenden Retrospektiven kann das gesamte Team dann besprechen, wie erfolgreich das Lernen in der vergangenen Iteration gelaufen ist, wo sie Schwächen festgestellt haben und was man für die nächste Iteration besser oder anders gestalten kann. Damit wird auch das Lernen agil und passt sich auf individuelle Bedürfnisse, Unternehmensziele sowie die berufliche Umwelt an.

 

These #4: Lernen muss erlernt werden 

Kurzer Zwischenstand: wir sagen also wir brauchen mehr Methoden, die uns Austausch mit anderen Personen bieten, unabhängig ob sie thematisch mit uns in einem Boot sitzen oder nicht. Dazu soll den Lernenden mehr Verantwortung übertragen werden, um Strategien für das eigene ganzheitlich betrachtete Lernen zu entwickeln. Das verlangt viel von den Lernenden ab und kann zu Überforderung führen! Eine Ursache ist unsere Schulbildung, in der wir vorrangig Inhalte vermittelt bekommen, allerdings nur selten Methoden, wie wir uns Wissen effizient aneignen können.

Die Metakompetenz „Lernen“, also die Fähigkeit zu Lernen ist absolut wichtig in einer Welt, in der die Halbwertzeit von Wissen immer kürzer wird. Daher sollte diese Kompetenz vor dem Berufsleben gestärkt werden. 

Ein Appell der Vortragenden ist, Lernen lebensphasenübergreifend zu betrachten. Dabei darf nicht nur der Inhalt zählen und belohnt werden, sondern auch der Weg, der zum Ergebnis geführt hat. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich unsere Fehlerkultur ändern muss. Schüler:innen und später Mitarbeiter:innen dürfen keine Angst vorm Ausprobieren neuer Wege und Methoden haben. Zusätzlich brauche ich die Fähigkeit, Lernsituationen zu erkennen: Wo verbirgt sich für mich eine Chance, etwas lernen zu können?

 

These #5: Wer informelles Lernen fördern will, kann es auch (zer-)stören

Informelles Lernen ist also genauso wichtig wie formales Lernen. Aber während formales Lernen plan- und förderbar ist, scheint informelles Lernen von außen schwer steuerbar. Denn zum informellen Lernen benötigen die Lernenden ein eigenes Bedürfnis, ihre Neugier zu stillen. Wie kann informelles Lernen also gefördert werden ohne es zu zerstören? 

Dazu wird ein Modell mit 4 Kategorien und 8 Faktoren für erfolgreiches informelles Lernen vorgestellt:

Lernhandlung: 

  • Eigenes Ausprobieren
  • Modelllernen

Feedback: 

  • Direktes Feedback
  • stellvertretendes Feedback  (allgemeines Erfahrungswissen)

Reflexion:

  • Reflexion im Nachhinein
  • Vorausschauende Reflexion (wo könnten Fallstricke lauern)

Lernintention:

  • intrinsische Lernintention
  • extrinsische Lernintention

Die intrinsische Motivation, lernen zu wollen, ist eine Herausforderung und eigentlich nicht förderbar. 

Eine detaillierte Veröffentlichung zum Thema Informelles Lernen am Arbeitsplatz findest du hier in englischer Version.

 

These #6: Lernende brauchen Leitplanken statt Wegbeschreibungen

In der Arbeitswelt gibt es genügend Lerngelegenheiten, sie müssen nur erkannt und genutzt werden. Es ist daher sinnvoll, Rahmenbedingungen zu überdenken und Zeit zum Lernen und Reflektieren einzuräumen, sowie ein allgemein positives Lernklima zu fördern. 

Leitplanken für einen Lernpfad können vom Unternehmen vorgegeben werden. Sie geben dann eine gewisse Sicherheit, dass es gut ist, Erfahrungen zu sammeln und Fehler zu machen. Das Lernen wird zu einem geförderten Ziel. Julian und Timo stellen ein Modell dazu vor, dass in zwei Dimensionen strukturiert ist: die menschliche Dimension (People Level) und die Organisationsdimension (Structural Level). Grundsätzlich geht es bei den Leitplanken darum, Austausch zu fördern, Erfahrungen zu teilen und allen Mitarbeiter:innen die größere Vision und Zielrichtung zu vermitteln. Die Führungskräfte sollten dazu die Lernkultur und auch eine Kultur des sozialen Austauschs vorleben.

Quelle: Yang, Baiyin. “Identifying Valid and Reliable Measures for Dimensions of a Learning Culture.” Advances in Developing Human Resources 5, no. 2 (May 2003): 152–62.

 

Wie eine Lernkultur in der Praxis etabliert wird

Felicia Würtenberger berichtet von ihrer Erfahrung, eine Lernkultur bei Kollex zu etablieren. Kollex ist eine digitale Plattform für Getränkefachgroßhändler. Motivationstreiber für eine neue Lernkultur, also New Learning, sind laut Felicia die sich ständig wandelnden Anforderungen und auch die technologischen Weiterentwicklungen.

 

Lernen als Mindset in der Organisation 

Felicia Würtenberger hat in 2020 am innovativen Konzept Die Schule als StartUp mitgewirkt

Organisationen sollten zuerst ein Mindset (engl. für Denkweise, Einstellung, Mentalität) für neue Formen des Lernens entwickeln. Dazu gehört zum Beispiel das Verständnis, dass Lernen integraler Bestandteil der Arbeitszeit ist und es ein Budget dafür gibt. Ein Unternehmen muss sich als eine lernende Organisation begreifen und diese neue Haltung entwickeln. Selbstbestimmtes Lernen soll erlaubt und gefördert werden, dazu ist beispielsweise ein Safe Space Voraussetzung. 

Die eigene Begeisterung ist laut Felicia eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen. Es bedarf einer guten Feedbackkultur, sowie Zeit und Chance zum Reflektieren. Diese Faktoren kann ein Unternehmen unterstützen. Felicia macht den Vorschlag, Lernen im Management zu verankern und durch die Unternehmensführung und Vorgesetzte vorzuleben. Ein weiterer Vorschlag von ihr ist, Feedback und Evaluation durch cross-funktionales Lernen zu fördern. Beispielsweise indem Mitarbeiter:innen einer Abteilung einen Workshop einer anderen Abteilung moderieren. Das unternehmensinterne Netzwerk kann durch solche Maßnahmen und weitere feste Lernrituale und -räume gefördert werden. 

Zuletzt zeigt Felicia auf, dass bereits innerhalb des Bewerbungsprozesses bei Kollex geschaut wird, ob Kandidat:innen gerne lernen und damit das richtige Mindset mitbringen. Die Mitarbeiter:innen werden dann vom ersten Tag an ermutigt, ihre Ideen und Impulse zu teilen und sie werden unterstützt, einen Kontext dazu zu finden.

 

New Learning – Was wir mitnehmen

Die sechs Thesen zum New Learning haben uns sehr beeindruckt. Vieles davon ist irgendwie klar und passt sehr gut zum New Work Gedanken. Die wissenschaftliche Aufbereitung hat dieses implizite Wissen nochmal geschärft. Lernen wird unterstützt von richtigen und guten Werkzeugen (These #1), braucht die Verantwortung des Lernenden (These #2) und muss ganzheitlich betrachtet werden (These #3). Wenig überraschend ist die These #4, dass richtiges und gutes Lernen auch erst individuell erlernt werden muss. Wichtig und gleichzeitig knifflig ist These #5, dass informelles Lernen gefördert und gleichzeitig gestört werden kann. Da braucht es viel Fingerspitzengefühl und eher Leitplanken von einem Unternehmen als zu enge Vorgaben (These #6).

Felicia’s Einblick in die Praxis unterstrich diese Komplexität nochmal und zeigt uns, dass eine Lernkultur durch Management und Mitarbeiter:innen gleichwohl gesteuert werden sollte. Spannend ist vor allem, dass es ein Kriterium schon bei der Einstellung der richtigen Menschen mit einem Growth Mindset sein kann.

Wir bedanken uns bei unseren Dozenten und hoffen, du kannst mit den 6 Thesen den Begriff New Learning besser verstehen und für dich sowie deine Organisation anwenden.

Hier ist der Meetup-Mitschnitt aller Vorträge

Unsere Gastautoren

Conny Grünbaum

Conny Grünbaum kümmert sich beim IT-Berater Assecor GmbH hauptsächlich um die Personalbeschaffung. In einer Branche, in der der Fachkräftemangel deutlich spürbar ist, muss sie sich regelmäßig die Frage stellen, wie ein attraktives Arbeitsumfeld für Mitarbeiter auszusehen hat und die Umsetzung für das Unternehmen möglich ist. Dabei schätzt sie an der Arbeit in ihrem Unternehmen hauptsächlich die Freiheit und den Entscheidungsfreiraum, den sie für ihre Aufgaben eingeräumt bekommt.

 

 

 

Jens Hündling – Foto von studioafraz.com

Jens Hündling ist freier Trainer und Coach für digitale Transformation und New Work. Als ehemalige IT-Führungskraft kommuniziert er lieber mit Menschen als mit Maschinen und entwickelt leidenschaftlich Teams und Organisationen. Vor allem mit ostfriesischem Humor. Mehr über ihn unter https://dr-huendling.de

 

 

 

Heidi Dommaschke

Heidi Dommaschke begleitet als Trainerin, Mediatorin und Coach Menschen und Organisationen im Wandel. Besonders am Herzen liegen ihr neben Inner Work, Resilienz- und Ressourcenarbeit vor allem die Weiterentwicklung von Kommunikations- und Konfliktkompetenz. Dabei treibt sie die Frage um, wie wir leben und arbeiten wollen und wie wir die Umgebung dazu aktiv mitgestalten können. www.hundred-ways.com

 

 

 

Titelbild von Freepik

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