Es ist Mittwoch, der 18.08.2021 kurz vor 12 Uhr. Ich logge mich in den Hangouts-Call von der New Work Berlin Meetup Gruppe ein und sehe zu, wie die Zahl Teilnehmer*innen stetig wächst. Insgesamt 75 Personen sind angemeldet. Auch Tim Bosenick ist bereits online und schaut, ob mit der Technik alles klappt.

Tim ist früherer Pfadfinder. Die ehrenamtliche Zusammenarbeit im Team, ohne jegliche Machtverteilung oder Hierarchie hat ihn damals sehr geprägt, sodass das Thema menschenzentriertes Arbeiten langsam in seinen Fokus gelangte.

Um kurz nach 12 Uhr startet Tim in das Thema und erzählt uns, wie er vor 21 Jahren ein Unternehmen im Bereich User Experience (UX) gründete. Die Firma wuchs damals schnell und für Tim lag dabei das Augenmerk insbesondere auf der Unternehmenskultur. Wichtig war für ihn hier die Etablierung von Führung ohne Macht: anstatt mithilfe von Druck wollte er lieber durch Empathie und Kommunikation führen. Als seine Firma dann von einem größeren Konzern aufgekauft wurde, beobachtete er den Kultur- und Strukturwandel mit Sorge. Diese Erfahrungen haben Tim nachhaltig geprägt. In ihm ist das Bedürfnis entstanden, Antworten auf die Frage zu finden: 

Wie können Arbeitsumfelder geschaffen werden, in denen Organisationen den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter*innen gerecht werden?

Das ist tatsächlich auch eine ganz zentrale Frage der New Work Bewegung. Mit seinem menschenzentrierten Lösungsansatz gründete Tim 2017 schließlich die Beratung SirConsa. Gemeinsam mit einem Expertennetzwerk coacht und begleitet Tim nunmehr Unternehmen in der Team- und Organisationsentwicklung. Für diese Transformationsprozesse nutzt er die Methoden der Employee Experience.

 

Was ist Employee Experience (kurz EX)

Der Begriff Employee Experience hat sich in den vergangenen Jahren entwickelt und wird in Zukunft mit großer Sicherheit weiter an Bedeutung gewinnen. Ziel ist es, für Mitarbeiter*innen im Arbeitsumfeld inspirierende sowie motivierende Erlebnisse zu schaffen, um damit die Produktivität zu steigern. Denn intrinsisch motivierte Mitarbeiter*innen tragen nachhaltig zum Unternehmenserfolg bei und bleiben im Betrieb. Demnach sind alle Erfahrungen, die Mitarbeiter*innen innerhalb eines Unternehmens machen, relevant. Sie haben enormen Einfluss auf das Fremdbild einer Organisation, die Leistungsfähigkeit sowie das formelle und informelle Netzwerk der Angestellten. Mithilfe von EX lernen vor allem Führungskräfte, alle Prozesse und damit verbundene Erfahrungen aus Sicht von Mitarbeiter*innen wahrzunehmen.

Für Tim ist tatsächlich der Begriff menschenzentriertes Arbeiten noch passender. Bei EX ist insbesondere der Ausdruck “Experience”, also „Erlebnis„, eher etwas Passives. Menschenzentriertes Arbeiten basiert für Tim aber auf aktivem Zuhören und einer Reaktion auf das Gesagte. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sollten immer einen aktiven Charakter haben.

 

Warum Employee Experience heute so wichtig ist

Auf Tims Folien fußt der Baum des EX-Mindsets auf der VUCA-Welt (siehe Grafik). Sie bringt aufgrund ihrer Volatilität, Unsicherheit, Komplexität aber auch Ambivalenz einen hohen Veränderungsdruck mit sich. Um hier erfolgreich im Sinne einer menschenzentrierten Organisation zu sein, braucht es Orientierung. Tims Beratung arbeitet mit dem Human Centric Organization (kurz: HCO) Score. Dieser stellt die Dimensionen Kultur, Kundenperspektive und Struktur innerhalb eines Fragebogens dar. So kann der Status quo des Unternehmens erhoben werden. Die erste Erkenntnis entsteht mit dem Wissen um die eigenen Werte und Vergleichswerten der Branche. So werden Antworten gefunden auf die Frage: Wie geht es uns als Unternehmen und wo gibt es Handlungsbedarf?

 

Zwei wesentliche Voraussetzungen für die erfolgreiche Entwicklung eines EX-Mindsets sind Purpose und Zielbild, hier dargestellt als Sonne. Sie sind unabdingbar, um Kultur und Struktur zu fördern oder kundenorientiert zu arbeiten.

 

Wie den Fokus auf Employee Experience setzen?

Tim stellt hier zunächst einen sehr allgemeinen Ansatz aus dem User Centered Design vor (siehe Grafik). Hintergrund ist der, dass jedes Unternehmen ein einzelnes System darstellt und damit anders funktioniert. Es gibt kein Allheilmittel, das sich auf jedes Unternehmen anwenden lässt. Im ersten Schritt muss es immer heißen, erstmal die richtige Maßnahme für den Ansatzpunkt zu finden – “Do the right thing”. Dazu ist das Kennen der Zielgruppe und deren Bedürfnisse unumgänglich und das Verständnis, was Mitarbeiter*innen bewegt und wie darauf reagiert werden kann. An dieser Stelle stehen Recherchen und Analysen im Vordergrund. In Workshops können Stakeholder zum Thema Zielbild  und Purpose interviewt werden. Hier hilft es, in Zusammenarbeit zu priorisieren und eine grobe Planung vorzunehmen. Veränderungsprozesse, die mit so einer EX-Beratung einher gehen, sind letztlich für das Team auch leichter zu verkraften, wenn sie Teil der Gestaltung sein dürfen. 

Sobald die Frage nach dem “Was?” beantwortet ist, schließt sich die nach dem “Wie?” an – “Do the thing right”. Aus der groben Planung werden Maßnahmen erarbeitet und in Pilotprojekten ausprobiert. Wichtig ist hier, im Anschluss das Feedback einzusammeln und zu fragen: Wie werden die neuen Maßnahmen aufgenommen? Was fällt positiv auf und wo muss nochmal nachgeschärft werden? So kann sich der Loop von vorne drehen und iterativ nachgezogen werden.  

 

Über kontinuierliches und iteratives Planen, Pilotieren und Optimieren von Maßnahmen kann eine Organisation sukzessive transformiert werden.

 

Welche Methoden der Zusammenarbeit gibt es bei einer EX-Transformation?

Für jeden Reifegrad der Maßnahmenerkennung und -erstellung empfehlen sich verschiedene Zielgruppen und Formate. Wichtig dabei ist zum einen, dass Mitarbeiter*innen-Fokus und Kund*innen-Fokus Hand in Hand gehen und gleichermaßen wichtig sind. So kann es empfehlenswert sein, nicht nur Mitarbeiter*innen in das “Wie wollen wir arbeiten?” mit einzubeziehen, sondern auch Kund*innen in CoCreations aktiv zu fragen, wo ihr Schmerzpunkt in der (Zusammen)arbeit liegt und was sie sich wünschen. Das kann in Großgruppen oder kleinen Teams passieren.

Zum anderen ist aber auch eine bestehende Lern- und Fehlerkultur relevant sowie der Mut, alte Rollen aufzubrechen und Mitarbeiter mehr in Verantwortung holen zu wollen. Diese brauchen einen strategischen Rahmen – quasi Leitplanken, in denen sie dann frei agieren können. Aber Achtung: so eine Veränderung geht nicht per Knopfdruck. Wir alle sind Menschen und damit unterschiedlich. Entwicklung braucht Zeit. Umso wichtiger ist es, sich nicht nur Gedanken um die einzelnen Maßnahmen zu machen und Leute in Rollen zu heben, sondern auch aktiv zu fragen, welches Wissen ihnen dafür fehlt und wie Weiterbildungsmaßnahmen aussehen könnten.

 

Kunden und Mitarbeiter diagnostizieren, priorisieren, planen und analysieren gemeinsam auf der Reise hin zu mehr EX.

 

Mein Fazit

Viele Unternehmen beschäftigen sich heutzutage mit dem Thema Employee Experience. Laut Tim haben aber nur wenige ein Verständnis dafür, welch ein Ausmaß das ganze Thema hat. Es reicht nicht, nur die Struktur anzupassen und Events zu schaffen. Der Führungsstil muss neu gedacht werden, Werte vorgelebt und das hierarchische Backlog archiviert werden. Eine solche Veränderung muss dann das Ausdiskutieren von Konflikten und unterschiedlichen Perspektiven aushalten. Tims Empfehlung daher an Unternehmen, die sich menschenzentriert aufstellen wollen: Bezieht das Management so früh wie möglich in eure Pläne ein und macht ihnen dieses Ausmaß klar. Sofern die “Chefetage” nicht mitzieht, scheitern solche Transformationen häufig am Commitment.

13 Uhr – 60 Minuten haben natürlich nicht gereicht, um mich zur professionellen EX-Managerin zu befördern. Aber ich freue mich, die Eindrücke morgen mit meinen Kolleg*innen zu teilen. Dazu gibt es zwei Lesetipps: Das Semco System von Ricardo Semler und The Employee Experience von Jacob Morgan. Inspiriert und voller Motivation, tiefer in das Thema einzusteigen, logge ich mich aus. 

 

Unsere Gastautorin

Conny Grünbaum kümmert sich beim IT-Berater Assecor GmbH hauptsächlich um die Personalbeschaffung. In einer Branche, in der der Fachkräftemangel deutlich spürbar ist, muss sie sich regelmäßig die Frage stellen, wie ein attraktives Arbeitsumfeld für Mitarbeiter auszusehen hat und die Umsetzung für das Unternehmen möglich ist. Dabei schätzt sie an der Arbeit in ihrem Unternehmen hauptsächlich die Freiheit und den Entscheidungsfreiraum, den sie für ihre Aufgaben eingeräumt bekommt.

 

 

 

Titelbild von Freepik

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